Ein exklusiver Beitrag von Jürgen Kraft (Philosoph) für weberberg.de:
Vom Philosophen Kohei Saito erschien 2023 das Buch „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“, das zum SPIEGEL Bestseller wurde.
Nun veröffentlichte das GEO Heft vom Februar 2025 unter der Überschrift „Lieber rot als tot?“ ein Interview, das Dirk Steffens mit Saito über sein Konzept eines „grünen Kommunismus“ (Dirk Steffens, S. 50, Sp. a) oder „Degrowth-Kommunismus“ (S. 55, Sp. a) führte.
Dessen Kernthesen sollten uns allen und insbesondere auch Vertreter:innen eines grünen Kapitalismus unbedingt zu denken geben.
Bis vor kurzem glaubten die allermeisten (noch) an die Erzählung von „unendlichem Fortschritt, unendlichem Wachstum“ (S. 50, Sp. b), die besagte, dass der Kapitalismus als solcher Wirtschaftswachstum, ständig steigenden Konsum und nicht zuletzt sogar Freiheit und die Demokratie garantiere.
Doch zwei Tatsachen sind inzwischen so offensichtlich, dass sie nur noch von total Verblendeten oder Lügnern nicht zur Kenntnis genommen werden können. Die erste Tatsache ist, dass unsere Erde mit ihrer Natur und ihren Rohstoffen begrenzt ist. Und die zweite Tatsache ist, dass die Menschheit die Grenze der Belastbarkeit der Erde erreicht, wenn nicht sogar bereits überschritten hat. Man braucht hierbei bloß an die Klimakrise der Erderwärmung, das Artensterben, die Umweltverschmutzung z.B. des Bodens und der Meere mit Plastik und der Luft mit Feinstaub und vieles andere zu denken. „Eigentlich reicht ja der gesunde Menschenverstand, um zu erkennen, dass unbegrenztes Wachstum unmöglich ist.“ (S. 50, Sp. b)
Eine gegenwärtig verbreitete –und scheinbar progressive- Reaktion darauf ist das Konzept eines grünen Kapitalismus, der in einer „Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ (Dirk Steffens, S. 52, Sp. b) den Hebel für eine Wirtschaftstransformation hin zu ökologischer Nachhaltigkeit sieht. Davon verspricht man sich ein weiteres künftiges Wachstum der Wirtschaft, das die Natur jedoch nicht mehr schädige. Als bekannteste Beispiele sei hier nur auf die Elektroautos und die Digitalwirtschaft verwiesen. „Um den Zielkonflikt zwischen endlosem Wachstum und endlichen Ressourcen zu lösen, sollen wir effizienter werden. Die Argumentation lautet: Okay, die Ressourcen sind knapp, wir müssen die Treibhausgasemissionen reduzieren, also wachsen wir in Zukunft einfach, ohne immer mehr Rohstoffe und Energie zu verbrauchen. Wir steigen einfach um in Elektroautos und auf erneuerbare Energie.“ (S. 50, Sp. b)
Völlig zurecht weist Saito in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass auch solch ein grünes Wirtschaftswachstum nicht möglich ist. Schon rein geschichtlich betrachtet: „Wenn wir uns die Geschichte anschauen, die vergangenen 50, 70 Jahre, dann gibt es keinen Hinweis darauf, dass Entkoppelung möglich ist.“ (S. 51 Sp. b, S. 52, Sp. b) Denn auch solch ein Wachstum kann ohne –zusätzlichen- Verbrauch von Ressourcen nicht auskommen. Saitos Lieblingsbeispiel oder Hassobjekt Nummer eins: „Mehr Elektroautos bedeuten zum Beispiel auch mehr Ressourcenverbrauch, der zu Lasten ärmerer Länder geht.“ (S. 53, Sp. a) Auch: „Aber die Digitalwirtschaft ist ja keineswegs dematerialisiert.“ (S. 52, Sp. b) Folglich: „Wir sollten also anerkennen: Endloses Wachstum ist in jeder Form eine schlechte Idee. Wir müssen andere Formen finden, unsere Bedürfnisse zu befriedigen.“ (S. 50, Sp. b) Kurz: Dieser vermeintliche Lösungsansatz kann überhaupt nicht funktionieren, da er zu kurz greift, sprich: nicht radikal genug ist, also nicht die wirkliche Ursache der ganzen Misere im Blick hat und dann auch nicht gegen diese angeht.
„Die Klimakrise ist so dramatisch, da müssen wir auch über radikale Lösungen nachdenken. Die Bepreisung von CO2-Emissionen, die Elektrifizierung des Straßenverkehrs, das ist doch alles andere als radikal. Das sind konventionelle Lösungsansätze. Zu klein.“ (S. 55, Sp. a) Und als solche erhalten sie bloß das bestehende, die ganze Not verursachende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, statt es total zu transformieren. „Ich kritisiere unsere Liebe zum Konzept des Unendlichen.“ (S. 50, Sp. b)
Solch ein negativer Befund verlangt eine Erklärung, die Suche nach der Ursache:
„Da frage ich mich natürlich, wieso dieser Unsinn immer weitergeht. Das ist der fundamentale innere Widerspruch des Kapitalismus, den schon Marx gesehen hat. … Ja, es liegt daran, dass das kapitalistische System uns zwingt, immer mehr zu produzieren, um den Profit zu steigern. Aber die Logik der Gewinnmaximierung hat nichts mit den Interessen der Menschen zu tun, sie hat sich davon gelöst. Das Kapital bestimmt uns, befiehlt uns, nötigt uns, definiert uns. Wir sollten anfangen zu überlegen, wie wir es zähmen können.“ (S. 50, Sp. b)
Die Ursache und damit Erklärung unsrer irrsinnigen katastrophalen Weltverhältnisse sieht Kohei Saito also in den Struktureigenschaften des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die unausweichlich zu den beschriebenen verheerenden Folgen für Mensch und Natur führen.
°Weil weiteres unbegrenztes Wirtschaftswachstum die Erde als Lebensgrundlage für die Menschheit zerstören würde, muß auf es verzichtet werden: Degrowth. Einen Kapitalismus ohne Wachstum aber kann es überhaupt nicht geben.
°Dabei ist die Arbeit an einer innovativen, nachhaltigen Technologie nicht an sich zu verurteilen. Das ist es nur, wenn sie als solche nur dazu dient, ge- oder besser: mißbraucht zu werden, den Konsum und damit letztlich den Profit des Kapitals weiter anzutreiben. Aber wenn sie genutzt wird, um die echten menschlichen Bedürfnisse optimal zu befriedigen und das gute Leben zu befördern, macht dies durchaus Sinn:
„Ich verdamme technologische Entwicklungen nicht, aber wir müssen über unseren exzessiven Konsum reden. Sonst wird jede Innovation in den Dienst des Kapitalismus gestellt, was dann wieder zu mehr Verbrauch führt.“ (S. 52, Sp. b)
°Dabei stellt eine Reduktion des Konsums vor allem der Oberschicht, aber auch der Mittelschicht, also der „Verzicht“ (S. 55, Sp. a) auf uns von der Werbung bloß aufgeschwatzte unnötige Güter und Dienstleistungen genau betrachtet überhaupt keine Einbuße an echter Lebensqualität dar. Denn: „Wachstum und Zufriedenheit korrespondieren längst nicht mehr.“ (S. 53, Sp. a) Ab einer bestimmten Grenze macht mehr Konsum nämlich definitiv nicht mehr glücklicher. Ganz im Gegenteil sogar: „Mehr Wachstum führt also inzwischen zu mehr Leid und weniger Wohlbefinden.“ (S. 52, Sp. b) Und das sowohl beim einzelnen Menschen als auch bei der ganzen Gesellschaft.
°Denn dem Kapitalismus geht es überhaupt nicht um ein gutes Leben für die Masse der Bevölkerung, sondern stets nur um den Profit einer ganz kleinen Minderheit.
Und diesem Profit zuliebe werden Menschen ausgebeutet, sich entfremdet und die Natur ruiniert.
°Und selbst die Demokratie, die unsere Gesellschaften angeblich dem Kapitalismus verdanken, ist in Wirklichkeit gar keine echte Demokratie, keine Herrschaft des Volkes, sondern eine Herrschaft des Kapitals. „Karl Marx sagt, das kapitalistische System, das die Menschen mit Freiheit und Demokratie assoziieren, ist in Wahrheit eine Diktatur des Kapitals. Denn wenn das grundlegende Ziel einer Gesellschaft die Profitmaximierung ist, kann es keine wahre Demokratie geben.“ (S. 53, Sp. a)
Kurz: „Ich denke also, die Demokratie ist grundlegend begrenzt durch den kapitalistischen Imperativ des unendlichen Wachstums.“ (S. 55, Sp. a)
Einen anschaulicheren Beleg für diese These als die US-Regierung unter Trump mit seinem Milliardärsberater Elon Musk dürfte es derzeit wohl kaum geben.
°Die kapitalistische Gesellschaft bzw. die gegenwärtigen kapitalistischen Weltverhältnisse sind also „irrational“! (S. 55, Sp. b) Und von daher muß die Gesellschaft völlig anders organisiert werden.
°Saitos alternative echte Problemlösung ist der grüne bzw. Degrowth-Kommunismus.
„Da es ums Überleben geht, müssen wir dringend und radikal darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft organisieren wollen. Und der Kommunismus könnte für die Mehrheit der Menschen, die unter neoliberalen Reformen leiden, Verbesserungen bedeuten, was am Ende mehr Demokratie und Fortschritt bedeuten würde.“ (S. 55, Sp. b)
°Schon die Lösung für die größte Krise unserer Zeit, die Klimakrise, kann für ihn nur ein „Öko-Kommunismus“ (Dirk Steffens, S. 55, Sp. b) sein.
°Statt um Profit muß es der Wirtschaft um die gute Versorgung der Bevölkerung, um die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse aller gehen, denen damit ein gutes, erfülltes Leben ermöglicht wird. Und nur so kommen wir heraus aus dem Hamsterrad.
Degrowth, also Konsumreduktion zumindest für die Oberschicht mit ihrem Luxuskonsum und die Mittelschicht ist nötig. „Unser exzessiver Konsum setzt uns unter Stress, es herrscht ständiger Wettbewerb. … Das ist eine Form von Not, die uns unglücklich macht. Und dann wollen wir noch mehr Vergnügen, noch mehr Konsum, um den Stress zu vergessen. Wenn wir also etwas weniger konsumieren würden, dann könnte uns das eventuell auch etwas glücklicher machen.“ (S. 52, Sp. b)
°Dabei muß diese echte Bedürfnisbefriedigung dann gerecht auf alle Individuen verteilt sein. Überluxus einer kleinen Minderheit, die unnötig die Natur belastet, können sich die Menschheit und die Natur nicht mehr „leisten“. Im Gegensatz zur gegenwärtigen umgekehrten braucht es daher eine Umverteilung von oben nach unten: „Das rechtfertigt meiner Meinung nach, einige der Ressourcen und Reichtümer von denen zu nehmen, in deren Händen sie konzentriert sind. Eine Umverteilung, damit alle zumindest leben können.“ (S. 55, Sp. b)
Diese Gleichheit gilt selbstverständlich für alle Individuen unserer Gattung, also gerade auch für die Nord-Süd-Beziehungen. Auch die Bevölkerungen der 3. Welt müssen teilhaben am Weltreichtum.
„Degrowth hingegen will einen Raum des Dialogs zwischen dem globalen Süden und dem Norden eröffnen, um voneinander zu lernen und eine gerechte, soziale und nachhaltige Lebensweise für alle Menschen auf der Erde zu ermöglichen.“ (S. 56, Sp. b)
°Dabei betrachtet Saito diese notwendige Nachjustierung der uns von der Werbung aufgezwungenen Wertevorstellung von einem erfüllten Konsumenten-Leben als originäre Aufgabe der Philosoph:innen. Sie müssen die neue Werteorientierung ausarbeiten:
„Wir leben in einer Zeit, in der die Krise schneller voranschreitet, als die Werte der Menschen sich ändern. Ich glaube, Philosophen können dabei helfen, die weltweite Transformation der Werte zu beschleunigen.“ (S. 56, Sp. b)
Nur nebenbei sei angemerkt: Den möglichen Einwand gegen bzw. die Angst vor dem Kommunismus als Lösung der gegenwärtigen Weltprobleme, die sich aus der Erinnerung an den ehemaligen real existierenden Sozialismus des einstigen Ostblocks –also der untergegangenen UdSSR oder Chinas- ableiten, kontert Saito damit, dass es ihm selbstverständlich nicht um solch eine autoritäre Variante von Kommunismus gehe. „Ich sage ja nicht, wir sollten das Modell der Sowjetunion kopieren. Nein, das hat ja total versagt …“ (S. 55, Sp. a) Auch:
„Ich habe keine Sympathie für das chinesische Modell. Es kombiniert den alten Wachstums-Sozialismus mit exzessiver Modernisierung, mehr Technologie, unendlichem Fortschritt, unendlichem Wachstum –und entsprechender Zerstörung der Umwelt.“ (S. 56, Sp. b)
Hoffnung auf die Realisierungschance einer echten Gesellschaftstransformation schließlich macht sich Saito von dem Phänomen, dass bereits eine kleine Minderheit von 3,5% der Bevölkerung einen gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandel herbeiführen kann.
„Der Harvard-Politologin Erica Chenoweth zufolge müssen nur 3,5 Prozent einer Bevölkerung sich erheben und gegen eine Ungerechtigkeit aufbegehren, um ein System zu transformieren. Es braucht keine Mehrheit, nur ein paar kluge Menschen. Ich bin überzeugt, es gibt mehr als 3,5 Prozent davon.“ (S. 56, Sp. b)
Wichtiges Buch!! Ein Denkanstoß in die richtige Richtung. Dazu noch ein Zitat ( Systemsturz S. 221 … „Frederic R. Jameson meint, es sei inzwischen einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus“ Wenn man Saito liest, beginnt man zu verstehen, dass es einen Weg gibt.